Die endgültige Vertreibung, der lange Weg in den Westen und der Neuanfang.
Am frühen Morgen des 20. März 1946 wurden wir aufgefordert innerhalb von 20 Minuten fertig zum Abmarsch vor dem Haus zu sein. Uniformierte Polen trieben uns zum Bahnhof und verfrachteten uns in Viehwaggons. Wohin die Reise ging war unbekannt. Wenn der Zug unterwegs einmal hielt, wurden Tote herausgereicht. Ab und an gab es Wasser zu trinken. Beim Erreichen der Oder-Neiße Linie haben uns die Polen, alles was wir bei uns hatten, abgenommen. Wir hatten nur noch das, was wir am Leibe trugen. So erreichten wir das Gebiet der späteren DDR. Wir wurden bis Stralsund gefahren, dort lebte meine Tante. In Stralsund kamen wir für eine kurze Zeit unter und hatten endlich wieder richtiges Essen. Wir durften in Mecklenburg nicht bleiben, weil die Aufnahmekapazität des Landes überschritten war (Gott sei Dank, wie sich später heraus stellte) und mussten weiter nach Westen. Am 13.5.1946 erreichten wir das spätere Bundesgebiet. Nach der üblichen Entlausung mit einem riesigen Klistier, Ärmel und Hosenbeine wurden zugehalten, die riesige Puste am Kragen eingeführt und gepustet bis das Entlausungspulver überall wieder raus kam, erhielten wir nach einer ärztlichen Untersuchung die Aufnahmepapiere. Ich habe vor Schreck gebrüllt wie am Spieß. Das waren meine ersten Erfahrungen mit Amerikanern, oder waren es Engländer? Ich weiß es nicht mehr so genau. Endlich mal wieder satt essen mit dünner Suppe und Brot, das Gefühl ist nicht zu beschreiben. Nur wer gehungert hat, kann das nachempfinden.
Wir wurden weiter geleitet in das Sammellager Hörnum auf Sylt. Die ehemalige Kaserne der Marine am Rantumer Becken bei Hörnum war für Wochen unser Quartier. Bei den Fischern wurden für 5 RM je 10-Liter Eimer Frischfisch gekauft und in alten Soldatenschränken selbst geräuchert. So haben wir unseren Hunger gestillt und überlebt bis wir einem Bundesland zur Aufnahme zugeteilt waren.
Unsere nächste Station war ein großer Bauernhof im Münsterland, weitab jeglicher Siedlung. Mittags wurde ich immer nach unten geschickt und musste auf der Treppe warten bis die Bäuerin mir eine Schüssel mit dampfenden Kartoffeln gegeben hat. Stolz trug ich meinen Schatz immer nach oben. Das war mein Beitrag zum Überleben.
Dies war nur eine kurze Zwischenstation bis wir weitergeleitet wurden nach Bockum-Hövel in die Dörholtstraße.
Dort hatten wir zu Dritt ein Zimmer mit einem Kanonenofen zum Heizen und Kochen. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, das hatten noch lange nicht alle Heimat-Vertriebenen. Im strengen Winter 1946/47 weiß ich von einer allein stehenden Dame, dass sie in der Nacht auf der Kirchenmauer in Bockum-Hövel erfroren ist und morgens dort tot gefunden wurde. In Hamm bin ich eingeschult worden. Meine Oma hat mich jeden Morgen zu Fuß in die weit entfernte Schule gebracht und mittags wieder abgeholt. Fahrmöglichkeiten gab es nicht. Im Jahr 1948 hatte der Suchdienst des Roten Kreuzes endlich meinen Vater gefunden und er uns. Da Pommern verloren war, hatte er sich aus der Kriegsgefangenschaft, aus dem Kriegsgefangenenlager in Remagen, ins Rheinland entlassen lassen. Dadurch kam er früher frei. Alle Gefangenen aus den Ostgebieten wurden länger festgehalten, da niemand wußte wie es dort weiter gehen sollte. Er war auf einem Bauernhof in Widdendorf im Rheinland untergekommen. Mein Vater hat mich zuletzt als 1,5Jährigen gesehen und als wir uns das nächste Mal sahen, war ich schon 7 Jahre alt und im 2. Schuljahr. Er besuchte uns 1948 in Bockum-Hövel und dann begann der lange Weg durch die Instanzen der Behörden um die Familie wieder zusammen zu führen. Im September 1949 war es endlich soweit. Mit einem Tempo Dreirad fuhren wir den ganzen Weg ins Rheinland. Meine Mutter und ich vorne auf dem Beifahrersitz und meine Oma saß in einem Korbsessel auf der Ladepritsche. Unterwegs musste angehalten werden um unsere drei Kaninchen zu füttern. Mein erster Eindruck von Köln war der Dom inmitten einer Trümmerlandschaft und der zerbombte Neumarkt.
Unsere Vertreibung war nach 3,5 Jahren zu Ende. Dann begann die schwere Nachkriegszeit im Rheinland. Heimatvertriebene wurden böse beschimpft und entsprechend behandelt. Unwissen über den Leidensweg der Heimatvertriebenen und Unwillen, die zwangsweise zugewiesenen Neubürger hier zu akzeptieren, waren der Nährboden für ein sehr gespanntes Verhältnis. Es war, zugegeben, auch für die Rheinländer nicht gerade leicht.
Da ich den rheinischen Dialekt nicht sprach, fiel ich überall als Fremder sofort auf. Für mich war es überlebenswichtig den Dialekt möglichst schnell sprechen zu lernen und die andere Mentalität der Menschen zu verstehen um mich zu integrieren. Kinder können untereinander im seelischen Bereich sehr grausam sein.
Im Jahr 1958 zogen wir nach Kerpen im Rheinland und 1962 nach Frechen. Seit dieser Zeit bin ich hier zur Ruhe gekommen, habe einen Beruf erlernt, geheiratet, studiert und eine Tochter groß gezogen. Mir ist nichts in den Schoß gefallen, ich habe alles hart erarbeiten müssen. Aber das nötige Glück habe ich in meinem Leben auch gehabt. Ich bin sehr zufrieden. Unser Enkel ist unsere ganze Freude.
Ohne die sanfte "Überredung" meiner Frau mit ihr nach Neustettin zu fahren und die Vergangenheit zu besuchen, wäre ich heute nicht so ausgeglichen und könnte über dieses Thema nicht schreiben. Es schlummerte alles sehr tief vergraben in meinem Inneren und sollte eigentlich nie mehr ans Tageslicht geholt werden. Aber heute bin ich froh und meiner Frau sehr dankbar, dass ich dieses Thema meiner Vertreibung für mich persönlich bewältigt und verarbeitet habe. Ich kann es Jedem nur empfehlen sich mit der Vergangenheit ohne Hass zu beschäftigen und sie zu verarbeiten, es lohnt sich für das eigene Wohlbefinden.
Eine Marotte kann ich einfach nicht ablegen. Ich kann auch heute noch keine Lebensmittel wegwerfen. Die Erinnerungen an die Hungerjahre sind unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingegraben.